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Buchkritik: Hyperpolitik von Anton Jäger

Die Gesellschaft ist politisiert wie schon lange nicht mehr, doch linke Ideen können sich in der Breite kaum durchsetzen. Anton Jäger analysiert, wie es zur „Hyperpolitik“ kommen konnte und bietet hilfreiche Analysen zur Gegenwart linker Politik.

Anton Jägers Essay erscheint in herausfordernden Zeiten: während nach dem Terrorangriff der Hamas der Nahostkonflikt erneut zum bestimmenden Thema wurde und besonders in den sozialen Medien für Streit und Spaltung sorgt, sehen Wahlprognosen die AfD bei über 20%. Zum gleichen Zeitpunkt bangt die Linkspartei als einzig verbliebene linke Oppositionspartei im Bundestag nach dem Austritt von Sahra Wagenknecht & Co. um ihren Fraktionsstatus. Es sind Ereignisse, die in „Hyperpolitik“ ihren Widerhall finden. 

Doch um die Erwartungen etwas zu managen, muss gleich zu Beginn klargestellt werden, dass Jägers Buch keine umfassende Theorie aufbaut. Es scheint eher als Intervention gedacht zu sein, die sich vor allem an ein linkes Publikum wendet und den Begriff „Hyperpolitik“ in den Diskurs einführen möchte. Der Autor, Jahrgang 1994, ist Historiker und befasst sich in seiner Forschung mit der Geschichte politischer Bewegungen. Er ist eng mit dem Jacobin-Magazin verbunden, dort gibt es einen Podcast, der ebenfalls den Titel „Hyperpolitik“ trägt.

Jäger analysiert unsere Gegenwart als eine Zeit, die politisiert ist wie kaum ein Zeitabschnitt seit dem frühen 20. Jahrhundert. Im öffentlichen Diskurs wird gestritten, welche moralischen Fragen unsere Konsumentscheidungen zugrunde liegen sollten, wie wichtig Diversität und gendergerechte Sprache sind, wie der Klimakrise entgegengetreten werden kann und wie sich Rassismus bekämpfen läßt. Diese Diskussionen sind zentral in vielen westlichen Gesellschaften, was aber noch nicht bedeutet, dass es eine große Zustimmung zu progressiven, emanzipativen Positionen gibt. Rechte Politik arbeitet sehr stark mit der Ablehnung dieser Fragen oder mit dem Beharren auf konservativen bis chauvinistischen Standpunkten. 

Diese starke Politisierung, die alle Lager durchzieht, ist eine Überraschung angesichts des gesellschaftlichen Umgangs mit Politik in den Jahrzehnten davor. Nach dem von Francis Fukuyama deklarierten „Ende der Geschichte“ 1989ff (von heute aus betrachtet ist es bizarr, dass diese These solch eine Wirkmacht entwickeln konnte) brach die Ära der Postpolitik an. Der Kapitalismus wurde „alternativlos“, Regierungen wurden zu technokratischen Verwaltungen, internationale Konzerne griffen immer mehr in staatliche Politik ein. Politisches Engagement wurde wie eine exotische Marotte betrachtet, stattdessen Hedonismus propagiert. In den 2000er Jahren und spätestens durch die Finanzkrise ab 2008 wurde die Postpolitik von einer Antipolitik abgelöst. Die Occupy-Bewegung fantasierte herbei, dass sie die „99%“ vertrete, die von dem „1%“ unterdrückt werde, es entstanden neue Parteien wie die 5 Sterne in Italien, die sich als „weder links noch rechts“ positionierten. Diese Ablehnung des gängigen politischen Schemas führte aber vor allem dazu, dass der Rechtspopulismus erstarken konnte.

Den Beginn der Hyperpolitik macht Anton Jäger im Zuge des Wahlsiegs von Donald Trump aus. Als Antwort auf Trumps Twitter-Dauerbombardement mit abstrusen Statements und Fake News sahen sich viele Menschen in den USA, aber auch in Europa, dazu aufgefordert, sich zu positionieren. In den letzten Jahren waren es Kampagnen wie Black Lives Matter und #metoo oder die Klimagerechtigkeitsbewegung, die diese Politisierung weiter befeuerten. Es ist eine Politisierung, die vor allem über die sozialen Medien ihren Ausdruck findet und dort immer wichtiger wurde. Immer wieder entsteht schon fast ein Zwang, sich zu bestimmten politischen Ereignissen über Social Media äußern zu müssen, sowohl aus eigener Motivation als auch durch die Erwartungshaltung der digitalen Öffentlichkeit. Die aktuelle Eskalation des Nahostkonflikts ist hierfür nur das jüngste Beispiel. 

Wenn unsere Gegenwart so hyperpolitisiert ist, warum schlägt sich aber die starke Präsenz linker Themen nicht in linken Wahlerfolgen und einer progressiven Politik nieder? Anton Jägers Antwort fällt ernüchternd aus: weil wir es verlernt haben, uns politisch zu organisieren. In seiner historischen Analyse, die neben soziologischen Studien auch Literatur von u. a. Annie Ernaux und Didier Eribon einbezieht, macht der Autor deutlich, wie seit den 1960er Jahren die Organisation in Parteien, Gewerkschaften, Vereinen und Initiativen kontinuierlich nachliess. Der neoliberale Zeitgeist favorisiert den Individualismus und entwertete über die Jahrzehnte das kollektive politische Engagement immer mehr. Ein Prozess, der besonders die Linke hart traf, dem aber auch liberale und rechte Kräfte unterlagen, die Mitgliederzahlen der politischen Parteien sind in allen Lagern deutlich gesunken. Die Rechte kann sich aber besser stabilisieren, sie ist über Lobbyverbände vernetzt, schaltet sich mit Thinktanks in den öffentlichen Diskurs ein und verfügt über mehr Kapital. Zudem machen Parteien wie die AfD ihren Wähler*innen ein bequemes Angebot: wir sind die „starke Hand“, ihr könnt schön weiterleben wie bisher und braucht euch nicht politisch zu engagieren.

Was nun für eine Linke zu tun ist, dafür hat Anton Jäger keine konkreten Vorschläge, auch er klingt am Ende seiner Analysen etwas ratlos. Natürlich fände er es seiner Argumentation folgend wichtig, wenn mehr Menschen in linke Parteien und Gewerkschaften eintreten und sich aktiv einmischen würden. Die Organisation in außerparlamentarischen Gruppen wird von ihm wenig thematisiert und seltsamerweise ist auch die politische Wirksamkeit der 1968er Bewegungen eine Leerstelle des Buches (inklusive 2. feministische Bewegung und Gründung der Grünen), hatte doch gerade diese Generation sich den „Marsch durch die Institutionen“ auf die Fahnen geschrieben. Aber post-1968 zeigte sich auch, wie politisches Engagement zur individuellen Entscheidung wurde, zuvor war es eher der soziale Druck, der für die Mitgliedschaft in einer Partei oder Gewerkschaft sorgte. In solche Zeiten möchte der Autor nicht zurückfallen, stellt sich aber die Frage, warum für links denkende Menschen heute gewisse Empfindlichkeiten wichtiger sind als der Schulterschluss zur Durchsetzung gemeinsamer politischer Ziele. 

Jägers aufgrund seiner Kürze etwas unebener Essay konzentriert sich stark auf Europa und die USA und lässt einige Fragen offen. In der Summe ist dieses Buch dennoch äußerst anregend und vermag bei aller analytischen Nüchternheit zukunftsträchtiges Potenzial zu entfalten. Was würde passieren, wenn Zehntausende nicht nur Instagram-Kacheln mit linken Inhalten teilen, sondern sich auch noch in Gruppen organisieren würden? Man wird ja noch träumen dürfen …

Anton Jäger. Hyperpolitik. Aus dem Englischen von Daniela Janser, Thomas Zimmermann und Heinrich Geiselberger. 136 Seiten, Broschur. Edition Suhrkamp 2023. 16,- €.


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